Hallo,
den 4. Band der neuen Lucky Luke Gesamtausgabe habe ich nun weitestgehend durchgelesen. Zu den enthaltenen Comics muss ich nicht viel schreiben. Sie sind ja altbekannt und legendär, insbesondere natürlich der Band "Vetternwirtschaft", in dem die von René Goscinny geschaffenen Dalton-Cousins ihre offizielle Einführung und Charakterisierung erhalten - wenngleich sie in einer Nebenrolle bereits im vorherigen Band "Lucky Luke gegen Joss Jamon" haben; das hatte ich nicht mehr erinnert, sofern mir die Chronologie seinerzeit überhaupt so bewusst gewesen sein sollte.
Erwähnenswert ist darüber hinaus noch der Kurzcomic "Lucky Luke und Androkels", welches einer der in diesem Thread bereits diskutierten "Risque-Tout"-Comics ist. Dieser ist in der regulären Albenreihe noch unveröffentlicht (wohl aber in der alten Gesamtausgabe enthalten), weshalb ich ihn auch noch nicht kannte. Ein weiterer, nur halbseitiger Kurzcomic "Serenade in Silvertown", der Teil eines Preisausschreibens war, ist lediglich als Abbildung (aber mit auf Deutsch übersetzten Texten) enthalten. Dieser wurde
im Comicforum von dem hiesigen Mitglied Nullnullsix (dort unterdessen "ZAQ") erwähnt. Er soll demnach sowohl in ZACK als auch in der alten Lucky Luke Gesamtausgabe schon abgedruckt worden sein. Hier in der neuen Gesamtausgabe ist er - eben als Abbildung im Einleitungstext - lediglich in s/w abgedruckt. Aber man kann ihn vielleicht auch nicht als "richtige" Lucky Luke-Geschichte werten.
Ein paar mehr Worte ist vielleicht das "Drumherum" der in diesem Band der neuen Gesamtausgabe enthaltenen Lucky Luke Comics wert. Der Band beginnt zunächst einmal ungewöhnlich bzw. mit einer Überraschung, denn noch vor dem Einleitungstext, sogar vor dem Impressum, ist ein zweiseitiger Comic "1000 Verwendungen eines Cowboyhutes" abgedruckt. Dieser ist kein Lucky Luke-Comic, sondern handelt von einem kleinen Mann namens "Singin' Sam" mit überdimensionlem Hut, der sich als Goldsucher vorstellt (eine visuell sehr ähnliche Figur taucht allerdings in der Geschichte "Der Falsche Mexikaner" auf). Bedauerlicherweise fehlt es in dem Band zu diesem von Horst Berner übersetzten Kurzcomic an einer klaren Autorenangabe. Auf der Seite vor seinem Beginn sind die Unterschriften von Morris und Goscinny abgedruckt. Ob dies bedeuten soll, dass sie die Autoren des Comics sind oder sich - in dieser Weise auf einer farblich abgesetzten Seite vorangestellt - auf das Buch insgesamt bezieht, wird aber nicht ganz klar. Was tendenziell für ihre gemeinsame Autorenschaft spricht, ist, dass im Impressum zu diesem Comic steht "(c) Morris/Goscinny/Dupuis, 2022. Allerdings wird er insoweit in einer Reihe mit "Lucky Luke und Androkles" und "Der falsche Mexikaner" genannt - wobei letzterer ja mit Sicherheit nicht aus der Feder Goscinnys stammt. Auf dem Abbildungsnachweis auf Seite 7 des Buches steht zu dieser Illustration: "Kurzgeschichte aus dem
Spirou-Magazin Nummer 1000 vom 3. Juni 1957". Eine Autorennennung findet sich auch hier nicht. Klarheit schafft erst ein Blick in die Reddition Nr. 38. In der dortigen Goscinny-Bibliographie wird diese Kurzgeschichte nämlich unter "Kurzgeschichten in SPIROU" aufgelistet.
Insofern ist es sehr schön, dass diese thematisch zu Lucky Luke gut passende Geschichte in die Gesamtausgabe als Bonus Einzug gefunden hat. Eine eindeutige Autorennennung wäre aber eigentlich ein Muss gewesen.
Und dies ist auch - weiterhin - meine Kritik an der Präsentation der Lucky Luke-Geschichten. Diesen vorangestellt sind jeweils die französischen Coverzeichnungen, gefolgt von einer Erscheinenshistorie des französischen Originals und der deutschen Übersetzungen. An sich ist das gut gemacht. Es fehlt jedoch - gerade wieder in diesem Band, wo das nicht selbstverständlich ist - eine klare Zuordnung, welcher Band von welchem Szenaristen stammt. Dem Einleitungstext kann man zwar entnehmen, dass "Der falsche Mexikaner" sowie "Lucky Luke und Androkles" von Morris getextet sind sowie "Lucky Luke gegen Joss Jamon" und "Vetternwirtschaft" von Goscinny. Aber das sollte sich auch aus dem Comicteil selbst ergeben und nicht nur aus der Lektüre des sehr umfangreichen redaktionellen Beiwerks.
Ein weiterer (wenn auch sehr kleiner) Kritikpunkt ist die teilweise eher versteckte Nennung deutscher Titel der Comics. Die abgebildeten Cover enthalten ja nur den französischen Titel. Dass die grafisch entsprechenden deutschen Cover nicht abgedruckt sind, halte ich für sich genommen für verschmerzbar. Den bibliografischen Angaben ist aber jeweils auch nur der französische Titel in Fettdruck vorangestellt. Die bislang verwendeten deutschen Titel sind teilweise nicht einheitlich. So ist die Geschichte "Lucky Luke et la bande de Joss Jamon" früher sowohl unter dem Titel "Terror in Frontier City" als auch unter dem Titel "Lucky Luke gegen Joss Jamon" veröffentlicht worden. In diesem Fall ist zwar auf der ersten Comicseite ein Titelbalken vorangestellt. Das ist aber bei dem Band "Les Cousins Dalton", der auf Deutsch als "Die 4 Daltons", "Die Daltons schlagen wieder zu" und "Vetternwirtschaft" Veröffentlichung gefunden hat, nicht der Fall. Welchen deutschen Titel die Geschichte in dieser Ausgabe tragen soll, erfährt man nur aus der Inhaltsangabe auf dem Backcover des Buches sowie der Fußzeile neben der Seitenzahl. Für eine Gesamtausgabe, die keine Wünsche offen lassen will, hätte ich eine klare, der Geschichte jeweils vorangestellte deutsche Betitelung schöner gefunden.
Sehr erfreulich sind wieder die hochinformativen und reichlich bebilderten redaktionellen Einleitungstexte von Christelle & Bertrand Pissavy-Yvernault zu dem Werdegang der Autoren und dem Entstehen der Comicgeschichten sowie von Volker Hamann zur deutschen Geschichte von Lucky Luke. Letzterer wendet sich nunmehr der (ersten) Zeit des Cowboys im ZACK-Magazin zu, wobei sehr viele (vielleicht sogar alle) Coverillustrationen des Magazins mit Lucky Luke bis 1974 (wenn auch recht klein) abgebildet sind. Das einzige Problem(chen) mit dem Text ist natürlich, dass er zeitlich gesehen nicht zu dem Inhalt dieses Gesamtausgaben-Bandes passt. Denn er behandelt die Zeit von 1969 bis Ende 1974, während die Comics in diesem Band sowie der aus dem Französischen übersetzte Einleitungstext den Entstehungszeitraum 1956 bis 1957 betreffen. Da in ZACK allerdings teilweise auch diese alten Comics zum Abdruck kamen, erscheint das gleichwohl vertretbar. Ein Zurückstellen der Veröffentlichung der Texte von Volker Hamann, bis die Gesamtausgabe in ein paar Bänden bei den Anfang 1970 erschienenen Geschichten angekommen ist, wäre wohl auch nicht schöner gewesen.
Der Einleitungstext von Christelle & Bertrand Pissavy-Yvernault ist - mit teils seitenfüllenden Abbildungen - knapp 50 Seiten lang. Er ordnet unter anderem die Entstehung der einzelnen, in dem Band enthaltenen Comics ein und liefert Hintergründe zu Inspirationsquellen von Thematiken und einzelnen Szenen. Auch die Bedeutung einzelner Entwicklungen innerhalb der Lucky Luke-Reihe wird immer wieder schlaglichtartig hervorgehoben. So wird der Leser etwa darauf hingewiesen, dass es durchaus eine Neuerung von "Der falsche Mexikaner" war, dass die Indianer eine Hauptrolle spielen, oder dass der Gegenspieler in "Lucky Luke gegen Joss Jamon" der letzte (oder einer der letzten) der ernsten und weniger tollpatschigen oder sonst komischen Antagonisten war. All dies vergrößert den Lesegenuss durchaus, wenn man etwas Background zu der Entstehungsgeschichte und ein paar Einordnungen an der Hand hat.
Interessant war auch gerade, die Hintergrundgeschichte zu "Der falsche Mexikaner" zu lesen. So habe ich zum einen erfahren, dass es der Wunsch von Morris war, diesen Band noch allein zu fertigen, weil er zu ihm schon seit Monaten ein Konzept in der Schublade hatte und er Goscinny sogar in einem Brief versichert hat, dass nach dessen Veröffentlichung die Zusammenarbeit aber fortgesetzt werden solle. Zum anderen ist dort ausgeführt, dass Goscinny zwar nicht Autor des Bandes war, jedoch wesentliche Ideen dazu beigesteuert hat. Insbesondere soll die Rolle der Indianer auf seinen Vorshclag zurückgehen, während Morris Geschichten mit Indianern eigentlich eher abgeneigt gewesen sein soll; wenn er "seinen" Textern insoweit auch keine Vorgaben gemacht oder Vetos eingelegt habe.
Dieser Einleitungstext schließt nun auch weitestgehend die Lücke, die derjenige im letzten Band noch - wie
von mir seinerzeit kritisiert - gelassen hatte, zu den Kurzgeschichten, namentlich denjenigen aus "Risque-Tout". Zu diesen wird u.a. (wenn natürlich auch ohne Quellenangabe) ausgeführt, dass "Grabuge à Pancake Valley" und "Lucky Luke contre Androclés" von Morris seien, "Voleurs de cheveaux" (dt. "Pferdediebe") von Goscinny. Es wird explizit gesagt, dass dies das zweite Szenario für Lucky Luke von Goscinny gewesen sei.
Damit verbindet sich allerdings ein - m.E. eher schwerer wiegender - Kritikpunkt an der Gesamtausgabe: Sie bringt die Geschichte offensichtlich nicht in streng chronologischer Reihenfolge. Denn alle drei "Risque-Tout"-Comics sind nach dem Einleitungstext erschienen, bevor "Der falsche Mexikaner" (bzw. frz. "Alerte aux Pieds-Bleus") herauskam. Demgegenüber ist am Ende von Gesamtausgabe Band 3 nur "Dicke Luft in Pancake Valley" abgedruckt, am Anfang dieses Bandes nur "Lucky Luke und Androkles". Die Geschichte "Pferdediebe" fehlt also in dem Band. Ich bin zwar sehr zuversichtlich, dass sie in dem nächsten Band nachgeholt wird, so dass die Gesamtausgabe zumindest komplett sein wird. Einen chronologisch richtigen Abdruck ersetzt das in der Gesamtausgabe, die keine Wünsche offen lassen will, aber nicht (wenngleich ich natürlich ein gewisses Maß an Verständnis dafür habe, dass der Inhalt immer mit den Druckbögen hinkommen muss und eine Kürzung des Einleitungstextes auch nicht schön gewesen wäre).
Summa summarum ist dies aber - vorausgesetzt, die "Pferdediebe" werden nicht endgültig ausgelassen, was ich eigentlich nicht glaube - eine sehr schöne Fortsetzung der Gesamtausgabe, die viel Lust auf Band 5 macht, mit dem dann wohl endgültig der Abdruck der Comics des goldensten Lucky Luke-Zeitalters beginnen wird.
Gruß
Erik